the DARK side of life: Dezember 2022
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Liebe Leserin, lieber Leser, 
 
die Zeit fliegt nur so vorüber – und schon ist sie da, die letzte Ausgabe von »the DARK side of life« in 2022! Heute geht es um die Planung vor der eigentlichen Schreibphase, das sogenannte Plotten. Außerdem beleuchten wir, auf Wunsch einer Newsletterabonnentin, die wahre Geschichte hinter dem Netflix-Erfolg »The Watcher«, widmen uns dem Genre der Dystopien, und es gibt natürlich auch wieder mein persönliches Highlight des vergangenen Monats.
  
Ich wünsche dir viel Vergnügen!
 
P.S.: Gibt es einen Bereich meines Alltags oder einen True Crime-Fall, über den du gerne mehr erfahren möchtest? Dann antworte mir gerne auf diese Mail!
 
 
 

Behind the Scenes: Wie plane ich eine Geschichte?

Ich hab 'ne coole Idee, und dann hau ich in die Tasten und schreib ein Buch! Richtig? Na ja ... nein. Denn von der Grundidee bis hin zum finalen Plot ist es ein langer und manchmal sehr steiniger Weg. Figuren wollen entwickelt, Szenen konzeptioniert, der Spannungsbogen aufgezogen werden. Schreiben, so sagt man, ist eben nicht nur ein kreativer Prozess, sondern vor allem auch Handwerk.
 
Mir persönlich gefällt dieser Vergleich sehr gut. Denn: Wenn ein Schreiner einen Hocker bauen möchte, dann kann er zwar über Form und Verzierungen der einzelnen Teile bestimmen, aber er kann nicht das zugrundeliegende Konzept verändern. Ein Hocker ist kein Hocker, wenn man nicht darauf sitzen kann, wenn ihm also die dafür entscheidenden Elemente, Sitzfläche und Beine, fehlen. 🪚
 
Das zugrundeliegende Konzept einer jeden guten Geschichte ist die sogenannte Heldenreise: ein Schema, das Autor:innen (und Geschichtenerzähler:innen im allgemeinen) dabei hilft, den Erzählbogen schrittweise zu spannen. Es handelt sich um eine Art Blaupause, die sich übrigens auf alle Genres anwenden lässt: Im ersten Abschnitt lernen wir den Protagonisten und seine Welt kennen, im zweiten passiert etwas Unerwartetes, usw. 📈
 
Innerhalb dieser Planungsphase formen Autor:innen auch ihre Figuren. Passend zum Schreiner-Vergleich: Aus welchem Holz müssen die Beine geschnitzt sein, damit sie die Sitzfläche tragen? 😉
 
Und dann – Plottwist: Der Schreiner baut gar keinen Hocker, sondern einen Tisch in Kindergröße – kommt beim Thriller noch ein weiteres wichtiges Element zum Tragen: Das Verschleiern der Auflösung. Denn gerade in diesem Genre ist es von entscheidender Bedeutung, dass Leser:innen immer wieder in die Irre geführt werden, das Ende im Idealfall nicht einmal erahnen können. Als Autorin muss ich also geschickt falsche Fährten legen, euch über mehrere Kapitel hinweg aufs Glatteis führen – und auch das will gut geplant sein!
 
Du siehst: Von der Idee bis zur Umsetzung, noch bevor also das erste Wort getippt wird, fließt ganz schön viel Zeit, Hirnschmalz und Herzblut in einen Roman. Aber es lohnt sich! 🖤
 
Mein nächster "Hocker" ist übrigens bereits skizziert, das Holz ausgewählt und erste Teile ausgesägt. Jetzt muss ich sie nur noch zusammensetzen ... 😈 »Mädchenschrei« wird er heißen. Mehr dazu im Januar – exklusiv für Newsletterabonnent:innen!
 
P.S.: Dir gefallen meine Bücher? Dann lass es mich und andere Leser:innen wissen, indem du z.B. bei Amazon eine kurze Rezension schreibst!
 
 
 

True Crime: Junges Blut im 657 Boulevard

»Liebste Neuankömmlinge im 657 Boulevard, erlaubt mir, euch in der Nachbarschaft willkommen zu heißen.« Derek Broaddus lächelt, während er die ersten Zeilen des Schreibens überfliegt, das er soeben aus dem Briefkasten gezogen hat. Es ist der 5. Juni 2014, und drei Tage zuvor hat der Familienvater den Kaufvertrag für das neue Zuhause unterschrieben. Sechs Schlafzimmer, zwei Bäder, hohe und schön verzierte Wände, ein Kamin, eine überdachte Veranda zur Straße sowie eine offene, sonnengefüllte Terrasse zum Hinterhof, das alles in bester Lage, idyllisch und doch nur 40 Autominuten von New York entfernt. Hier möchte Derek mit seiner Frau Maria alt werden, die drei Kinder großziehen, glücklich sein.
 
In den kommenden Wochen möchte die Familie das Haus renovieren, dann steht der Umzug an. Alle fünf freuen sich auf das Leben im malerischen Westfield – und auf die freundliche Nachbarschaft, die der Makler im Exposé und auch im persönlichen Gespräch ausdrücklich hervorgehoben hat. Doch jetzt, da Derek den Willkommensbrief liest, überkommt ihn ein mulmiges Gefühl. Denn dessen Inhalt nimmt plötzlich eine beunruhigende Wendung: 
 
»657 Boulevard ist seit Jahrzehnten eine unserer Familienangelegenheiten [...]. Mein Großvater hat das Haus in den 1920er-Jahren beobachtet, mein Vater in den 1960ern. Jetzt ist meine Zeit gekommen. Kennt ihr die Geschichte des Hauses? Wisst ihr, was sich hinter den Mauern von 657 Boulevard verbirgt? Warum seid ihr hier? Ich werde es herausfinden. Musstet ihr das Haus mit dem jungen Blut füllen, um das ich gebeten habe? Gut für mich. War euer altes Haus zu klein für die wachsende Familie? Oder war es Gier, die euch dazu gebracht hat, mir eure Kinder zu bringen? Sobald ich ihre Namen kenne, werde ich sie rufen und sie zu mir ziehen.«
 
»Wer bin ich? Es gibt Hunderte und Aberhunderte von Autos, die jeden Tag am 657 Boulevard vorbeifahren. Vielleicht bin ich in einem. Schaut euch alle Fenster an, die ihr vom 657 Boulevard aus sehen könnt. Vielleicht bin ich in einem. Willkommen, meine Freunde, willkommen. Lasst die Party beginnen. The Watcher.« Dereks Lächeln gefriert. Dennoch tut er den Brief schließlich als einen üblen Jungenstreich ab. Die Renovierungsarbeiten beginnen.
 
Doch schon knapp zwei Wochen später, am 18. Juni, erhält die Familie ein weiteres Schreiben. »657 Boulevard freut sich auf euren Einzug«, heißt es darin. »Es ist Jahre und Jahre her, seit junges Blut die Flure des Hauses beherrschte. [...] Wird der Nachwuchs im Keller spielen? Oder haben die Kinder zu viel Angst, allein dorthin zu gehen? Ich hätte große Angst, wenn ich sie wäre. Es ist weit weg vom Rest des Hauses. Wenn ihr oben seid, könnt ihr sie nicht schreien hören.«

»Fenster und Türen im 657 Boulevard ermöglichen es mir, euch zu beobachten und zu verfolgen, während ihr euch durch das Haus bewegt«, schreibt der Unbekannte, der im Übrigen von den Renovierungsarbeiten alles andere als angetan ist und der Familie blanke Gier und die Zerstörung seines Eigentums vorwirft. Die Zeilen klingen überaus bedrohlich. Der selbst ernannte Watcher kennt die Namen der Kinder. Derek Broaddus schaltet die Polizei ein.
 
Die wendet sich unter anderem an die Vorbesitzer des Hauses – denn auch diese werden im zweiten Schreiben erwähnt: »Die Woods haben euch das Haus übergeben. Für sie war es an der Zeit, weiterzuziehen, und sie verkauften es euch, weil ich sie darum bat.« Tatsächlich kann sich die Familie jetzt an einen Brief erinnern, der allerdings erst wenige Tage vor ihrem lange geplanten Auszug ankam. Darin sollen sie aufgefordert worden sein, »dem Haus junges Blut zu bringen«. Die Woods hielten das – ebenso wie die Broaddus zu Beginn – für einen makabren Scherz.
 
Das Fehlen jeglicher Fingerabdrücke und sonstiger Spuren spricht gegen eine solch harmlose Erklärung. Und so bleibt der betroffenen Familie und den Beamten nichts anderes übrig, als den Inhalt der Briefe ernst zu nehmen. Sehr ernst. Derek Broaddus fühlt sich zunehmend verfolgt. Er setzt die Renovierungsarbeiten am Haus allein fort, verbietet Maria und den Kindern vorerst, das Gelände zu betreten.
 
Das aber scheint den Watcher nur noch mehr zu erzürnen: »657 Boulevard wendet sich gegen mich. Ich verstehe nicht warum. Welchen Zauber hast du darauf gelegt? Früher war es mein Freund, und jetzt ist es mein Feind. Ich bin verantwortlich für 657 Boulevard. [...] Ich werde geduldig sein und darauf warten, dass dies vorübergeht und dass du mir das junge Blut zurückbringst. 657 Boulevard braucht junges Blut. Es braucht euch. Kommt zurück. Lass das junge Blut wieder so spielen, wie ich es einst getan habe. Lass das junge Blut im 657 Boulevard schlafen. Hör auf, das Haus zu ändern und lass es in Ruhe.«
 
Die Ermittlungen der Polizei verlaufen im Sande. Missgunst kommt als Motiv für die Tyrannei am ehesten in Frage – immerhin ist die Immobilie 2014 satte 1,3 Millionen Dollar wert. Doch keiner der Nachbarn, früheren Bewohner oder Freunde der Familie kann mit den Briefen in Verbindung gebracht werden.
 
Derek und Maria Broaddus' Traum von einer glücklichen Zukunft in Westfield hat sich indes in einen Albtraum verwandelt. Beide machen nachts kein Auge mehr zu, fürchten um das Wohl ihrer Kinder – und geben schließlich auf. Die Familie zieht nie in das Haus am 657 Boulevard ein, versucht stattdessen, es zu verkaufen, was jedoch aufgrund der Vorgeschichte erst fünf Jahre später und mit erheblichem finanziellen Verlust gelingt.
 
Soweit bekannt ist, haben die neuen Besitzer keine Drohbriefe erhalten. Der Watcher, wer auch immer er war, hat sein Ziel erreicht.
 
 
 
 
 

Booktalk: Gib Dystopien eine Chance!

»Ich mag Dystopien nicht«, sagt die Bekannte, die mir im Café gegenüber sitzt, und rümpft die Nase. »Das ist mir zu viel Science Fiction.« Ihr Freund zuckt bedauernd die Achseln. Für einen kurzen Moment bin ich sprachlos (was nicht unbedingt häufig vorkommt). Ich denke darüber nach.
 
Ja, gerade filmische Umsetzungen, wie etwa die Serie »Black Mirror« (sehr zu empfehlen, gibt's bei Netflix), konzentrieren sich stark auf technische Neuerungen und deren Folgen für die Menschheit. Das liegt daran, dass Dystopien per Definition genau jene Themen aufgreifen, die einen Umbruch in unserer Geschichte markieren, und diese weiterdenken, um uns die möglichen Folgen vor Augen zu halten. Die Digitalisierung gehört also heute unweigerlich zu den zentralen Themen des Genres dazu.
 
Doch Dystopien schließen auch andere Felder mit ein – und sind weitaus älter als Computer und Co. Als erster stilbildender Text gilt »Verney – Der letzte Mensch« aus dem Jahr 1826. Nun geht es in diesem Roman von Mary Shelley ausgerechnet um eine globale Pestseuche ... und dass das aktuell kaum einer lesen will, kann ich verstehen. Aber auch die bekanntesten Vertreter des Genres veröffentlichten ihre Werke bereits im letzten Jahrhundert: Aldous Huxleys schuf in »Schöne Neue Welt« bereits 1932 eine Gesellschaft, die dem ständigen Optimierungszwang unterworfen ist; George Orwell lieferte mit »1984« schon 1948 eine beunruhigende Vision des Überwachungsstaats.
 
Allen dystopischen Werken gemein ist, dass sie ein Stück Gegenwart beinhalten und einen möglichen Weg für die Zukunft aufzeigen. Sie sind als gutgemeinte Warnung zu verstehen – nicht zwangsweise vor der Neuerung, die sie thematisieren, sondern häufig in erster Linie vor uns selbst. Genau das macht für mich den Reiz des Genres aus: Es verschafft (genau wie ein guter Thriller) tiefe Einblicke in die menschliche Seele. Nicht in der Zukunft, sondern im Hier und Jetzt.
 
Habe ich dein Interesse geweckt? Dann möchte ich dir Margaret Atwoods Roman »Der Report der Magd« (1985) wärmestens empfehlen. Zum Inhalt sei an dieser Stelle nur so viel verraten: Es geht um das Erstarken des religiösen Fundamentalismus in den USA, um eine theokratische Diktatur und insbesondere um die Rolle der Frau. Eine Dystopie ganz ohne SciFi-Elemente, versprochen!

Übrigens: Das Werk wurde unter dem Originaltitel »The Handmaid's Tale« auch als Serie umgesetzt (die ersten vier Staffeln gibt's bei Amazon Prime). Meine Bekannte ist aktuell mittendrin – und plötzlich Feuer und Flamme für Dystopien!
 
 
 

Highlight: 48 Säckchen voll Liebe

Wer meinen Debüt-Roman (»Nachtangst – Das Wesen der Stille«) gelesen hat, dem ist wohl klar: Ich hatte keine einfache Kindheit. Trotzdem gibt es natürlich auch vereinzelt schöne Erinnerungen, die ich gerade deshalb umso mehr zu schätzen weiß. So denke ich zum Beispiel gerne an den Adventskalender zurück, den meine Patentante jedes Jahr für mich gebastelt und befüllt hat, an die Spannung beim Auspacken und das überwältigende Gefühl, von ganzem Herzen geliebt zu werden.
 
Jetzt, da ich selbst (mittlerweile sogar zweifache) Patentante bin, führe ich diese wunderbare Tradition fort. Und so bestand ein Teil meines Novembers daraus, kindgerechte Leckereien, Bastelarbeiten und Lernspielzeuge zu besorgen und in 48 Jutesäckchen zu packen. Das war ganz schön zeitaufwändig und hat die Arbeit am neuen Buch sogar vorübergehend komplett lahmgelegt. Trotzdem: Vier strahlende Kinderaugen sind diese Mühe allemal wert! »Meine« beiden Jungs sollen wissen, dass ich ganz fest an sie denke – jeden Tag.
 
Auch dir wünsche ich an dieser Stelle eine besinnliche Weihnachtszeit im Kreise deiner Liebsten! Wir lesen uns im neuen Jahr! 🖤
 
 
 
 
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